ORTSGESCHICHTE

Schöneweide und die AEG

Die AEG Stadt

Das Industrieareal in Oberschöneweide ist eines der bedeutenden Denkmale der Berliner Industrie und gilt als größtes zusammenhängendes Industriedenkmal Europas. Der Aufstieg begann um 1895, als die AEG unter Emil Rathenau auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ihre sich ständig erweiternden Produktionsstätten an das noch unbebaute Spreeufer im Südosten der Stadt zog. Innerhalb weniger Jahre wurde Schöneweide zu einem der größten Standorte der Berliner Elektroindustrie und zwischenzeitlich zum weltweit größten Standort der AEG.

Kein Industriezweig hat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts das Wirtschafts-und Alltagsleben so entscheidend geprägt wie die elektrotechnische Industrie. Die europaweit einzigartige Konzentration dieses innovativen Wirtschaftszweiges verhalf der deutschen Hauptstadt im Kaiserreich zum Aufstieg zur „Elektropolis“ und machte Berlin in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer Industriestadt ersten Ranges.

Die „Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft“ war auf allen Gebieten der Elektrotechnik tätig. Sie war ein modernes Unternehmen, das den Aufbau und das Stadtbild von Oberschöneweide prägte. Schöneweide wird deshalb auch die „AEG-Stadt“ genannt. In der Wilhelminenhofstraße errichtete die AEG ein langgestrecktes Band von Werksanlagen, die mit ihren gelben Ziegelfassaden das fast zwei Kilometer lange Industrieband zwischen Spree und Wilhelminenhofstraße bis heute prägen.

Dafür verpflichtete die AEG die bekanntesten Architekten der damaliger Zeit wie Franz Schwechten und später Peter Behrens sowie die Spezialisten des Industriebaus Paul Tropp und Ernst Ziesel. Bis heute existiert das einzigartige Ensemble von Stockwerksfabriken, ausgedehnten Produktionshallen, Verwaltungsbauten und Wohnbauten, das das beginnende Zeitalter der architektonischen Moderne verkörpert und Schöneweide zu einem lohnenden Ausflugsziel macht.

Vortrag zur Geschichte der AEG

Das Exposé zum Vortrag „Die AEG – Aufstieg und Niedergang einer deutschen Industrielegende“ von Dr. Peter Strunk finden Sie unter diesem weiterführenden Link.

Geschichte der AEG (PDF)

Weiterführende Literatur

Auf Wikipedia lassen sich außerdem einige ausführliche Beiträge zur historischen Entwicklung von Schöneweide, Niederschöneweide und Oberschöneweide finden.

Die Geschichte der Industriebahn von Schöneweide

In der Anlage finden Sie die aktualisierte Darstellung der Geschichte der Industriebahn von Schöneweide – gesammelt und zusammengestellt von Andreas Lebioda. Er sucht einen Lokführer der KWO-Werkbahn, der über seinen Arbeitsalltag Auskunft geben möchte! Kontakt: info@industriesalon.de oder: Industriesalon Tel. 53007042

Wir wünschen viel Spaß bei der äußerst informativen Lektüre! (im Anhang)

Der Bulle (PDF)

Zwischen Spreeidyll und Gründerjahre-Flair

Schöneweide im Wandel der Zeiten

Es ist schwer zu glauben, aber Schöneweide muss in grauer Vorzeit tatsächlich die „schöne Weyde“ gewesen sein, als die sie in den ersten historischen Reisebeschreibungen erscheint – eine ausgedehnte Wiese an einer schön gelegenen Biegung der Spree, noch meilenweit entfernt von den Toren Berlins. Im 17. Jahrhundert bildeten sich dort zwei kleine Dörfchen an den Spreeufern aus, die Ober- und Niederschöneweide hießen. Die Spreeschiffer aus Köpenick hielten hier Rast, wenn sie mit ihren Kähnen nach Berlin unterwegs waren. Und allmählich entdeckten auch die Berliner das idyllische Gebiet als Ausflugsziel. Schon seit 1850 gab es in Ober- wie in Niederschöneweide mehrere große Ausflugslokale, die nicht nur Hunderte von Gästen bewirten konnten, sondern von Musikpavillons bis zu riesigen Tanzsälen auch kulturelle Attraktionen boten. Um diese Zeit errichtete man die ersten Kettenfähren über die Spree, man unternahm Bootspartien und Dampferfahrten, und ein Vorortzug trug die Berliner bis zum heutigen S-Bahnhof Wuhlheide.
Vielleicht wäre Schöneweide noch heute, ähnlich wie Köpenick, ein grüner Randberliner Erholungsbezirk, wenn nicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Expansion Berlins die sogenannte industrielle Randwanderung eingesetzt hätte. Eine Grundrentengesellschaft kaufte weite Areale in Schöneweide auf und vermarktete sie in großem Stil an gut betuchte Unternehmer, so dass um die Jahrhundertwende eine ganze Reihe von Großbetrieben längs des Spreeufers entstand, darunter nicht wenige Produzenten der noch jungen Elektrobranche. Emil Rathenau machte Schöneweide zu einem Hauptstandort der 1883 von ihm gegründeten Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG). In den 1890-er Jahren errichtete er hier eine Akkumulatorenfabrik, ein eigenes Kraftwerk – das erste Drehstromkraftwerk Deutschlands –, eine Automobilfabrik, unter anderem auch für Elektroautos(!), und ein modernes Kabelwerk mit Kupferwalzwerk, Gummiwerk und Drahtzieherei. Um 1920 kaufte er dazu noch die Werkzeugmaschinenfabrik „Deutsche Niles-Werke AG“ und baute sie binnen weniger Jahre zu einem der größten Transformatorenwerke Europas aus.
Die Vorteile des Standorts lagen auf der Hand: Während innerhalb Berlins zunehmend Platzmangel herrschte und großzügige Industriebauten dort kaum noch realisierbar waren, gab es im Umland weite Flächen genug. In Schöneweide gab es überdies die Spree, auf der in großem Umfang Güter per Schiff transportiert werden konnten, und es gab schon seit 1894 eine eigene Industrieanschlussbahn, die sämtliche Betriebe miteinander und mit dem Güterbahnhof Niederschöneweide verband.
Die industrielle Erschließung machte der Schöneweider Landidylle ein Ende und weckte die beiden dörflichen Gemeinden aus dem Dornröschenschlaf. Die Fabriken brauchten Arbeiter, und die Arbeiter brauchten Wohnraum, Geschäfte, Schulen für ihre Kinder. Hatte Oberschöneweide um 1890 ganze 159 Bewohner gezählt, so war bereits um 1900 die Einwohnerzahl auf 5.850 gewachsen, und zugleich mit der Einwohnerzahl wuchs auch die Infrastruktur rasant: In fieberhafter Eile wurden Straßen und Arbeiterwohnhäuser hochgezogen. Es war jene Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, die als Ära der Gründerjahre in die deutsche Geschichte einging. Man entdeckte die Möglichkeiten der industriellen Großproduktion, des internationalen Handels, des Eisenbahntransportes und vor allem der Elektrizität. Diese bildete das Herzstück der Industrialisierung. Elektrizität bedeutete Licht in den Städten, Antrieb für gewaltige Maschinen, Erleichterungen in sämtlichen Alltagsbelangen. Bis heute hängen wir alle an der Stromversorgung wie die Süchtigen am Dealer.

 

Die goldenen Jahre der Elektropolis

Emil Rathenau, Gründer und Chef der AEG, gehörte zu den ersten, die das enorme Zukunftspotenzial der Elektrizität erkannten. 1881 erwarb er von Thomas Edison die Nutzungsrechte an der Glühbirne und gründete zu deren Verwertung 1883 die „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“, die später als „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) firmierte und über Jahrzehnte zu den größten und erfolgreichsten deutschen Unternehmen zählte. Rathenau betrieb landesweit Fabriken für Leuchtmittel, Elektroantriebe und elektrotechnisches Zubehör, er baute ein Netz von eigenen Kraftwerken auf und trieb mit der Entwicklung immer neuer Patente und Innovationen die Entwicklung der Elektrotechnik voran – ein wahrhaft visionärer Unternehmer und neben Werner von Siemens und Friedrich Krupp eine der ganz großen Industriellenpersönlichkeiten der Gründerjahre. Sein Wirken hat bis heute das Gesicht von Schöneweide geprägt.
Bemerkenswert sind auch die Sozialleistungen, die Rathenau in seinen Betrieben etablierte. Als weitsichtiger Unternehmer erkannte er früh, dass er nicht nur in Maschinen, sondern auch in gesunde und zufriedene Arbeitskräfte investieren musste, wenn er auf Dauer Erfolg haben wollte. Betriebskantinen und Krankenversicherungen waren für die Arbeiter der AEG von Anfang an eine Selbstverständlichkeit, was man damals bei weitem nicht von allen deutschen Unternehmen behaupten konnte. Rathenaus Ehefrau Mathilde engagierte sich vor allem für die weiblichen Beschäftigten ihres Mannes. Mit der von ihr gegründeten Mathilde-Rathenau-Stiftung finanzierte sie nicht nur die Stelle einer sogenannten „Fabrikpflegerin“ – also einer Art Sozialarbeiterin für berufstätige Frauen – sondern auch eine der ersten „Fabrikkrippen“ Deutschlands, in der AEG-Arbeiterinnen ihre Kleinkinder unterbringen konnten.
Doch ein familiäres Nachleben war den Rathenaus nicht beschieden, obwohl sie zwei hochbegabte Söhne hatten. Der jüngere von ihnen, Erich Rathenau, ausgebildeter Maschinenbauingenieur, galt als designierter Nachfolger seines Vaters. Er war der erste Direktor und Technische Leiter des Kabelwerkes Oberspree. Um seiner Arbeitsstätte näher zu sein, ließ er in Schöneweide eine Villa errichten; doch kurz bevor er dort einziehen konnte, starb er 1903 an einer Tropenkrankheit. Die Rathenau-Villa in Schöneweide ist heute Sitz der Berliner Elektro-Innung.
Noch tragischer wurde Rathenaus zweiter Sohn Walter aus dem Leben herausgerissen. Er arbeitete gleichfalls für die AEG, interessierte sich aber auch für Politik und Wirtschaftstheorie und war schriftstellerisch tätig. 1922 wurde er zum deutschen Außenminister ernannt; doch noch im selben Jahr fiel er einem rechtsnationalen Attentat zum Opfer. Beide Brüder liegen, ebenso wie ihre Eltern, auf dem Waldfriedhof Schöneweide begraben, den Emil Rathenau 1902 errichten ließ und der Gemeinde Schöneweide schenkte.
Die 1920-er und frühen 1930-er Jahre waren die Blütezeit der AEG. Die deutsche Elektrotechnik entwickelte Qualitätsprodukte, die weltweit Absatz und Anerkennung fanden, und die Betriebe in Schöneweide zählten zu ihren wichtigsten Produktionsstätten. „Elektropolis“ wurde der Bezirk genannte, der seit 1920 endgültig zu Berlin gehörte und um diese Zeit schon mehr als 25.000 Einwohner zählte. Besonders das AEG-Transformatorenwerk Oberspree prosperierte. Lukrative Großaufträge wie der Bau des Kraftwerks Klingenberg oder die Erneuerung des japanischen Energienetzes nach dem großen Kanto-Erdbeben brachten dem Betrieb Millionengewinne. Dazu kamen Erfindungen und Ingenieurleistungen, die das Werk zum Weltmarktführer der noch jungen Transformatoren- und Schaltgerätebranche wachsen ließen. So gelang es hier erstmals, das Druckluftprinzip auf den Schalterbau anzuwenden; und 1927 wurde im Betrieb der größte Einphasentransformator der Welt gebaut.
Auch das Kabelwerk Oberspree brauchte den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Es war beteiligt an lukrativen Projekten wie der bayerischen Zugspitzbahn, für die es sämtliche Fernmelde- und Starkstromkabel lieferte; und als das Fernsehen in den 1930-er Jahren seine ersten Sendungen übertrug, wurden hier die Kabel dafür entwickelt. Ab 1938 wurden in der gleichfalls AEG-eigenen „Röhrenfabrik Oberspree“, die auf dem Gelände der Automobilfabrik NAG entstanden war, auch Fernsehröhren produziert, die man gemeinsam mit der Firma Telefunken vermarktete.

 

Kriegszerstörung und Neubeginn

Der Zweite Weltkrieg machte dem goldenen Zeitalter der Elektropolis ein Ende. Nicht mehr technischer Fortschritt oder internationale Handelsbeziehungen bestimmten jetzt die Produktion, sondern einzig die Erfordernisse des Krieges. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte die AEG als Rüstungsschmiede für das deutsche Heer fungiert. Jetzt wiederholte sich die Geschichte: Die AEG-Betriebe in Schöneweide stellten auf Kriegsproduktion um – anstelle von Kabeln und Transformatoren produzierte man jetzt Munitionshülsen oder Flakscheinwerfer, und auch daran verdiente man zeitweise sehr gut. Da es kriegsbedingt an Arbeitskräften fehlte, wurden Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas nach Schöneweide verfrachtet und in den AEG-Betrieben eingesetzt. In großen Lagern zusammengepfercht, die sich über den ganzen Bezirk verteilten, arbeiteten sie größtenteils unter unmenschlichen Bedingungen, zuletzt bis zu 69 Stunden pro Woche und bei magersten Tagesrationen. Auch KZ-Häftlinge wurden zur Zwangsarbeit herangezogen.
In der letzten Phase des Krieges waren die Schöneweider Betriebe starken Bombenangriffen ausgesetzt. Die Produktion musste teilweise ausgelagert werden, da wichtige Fabrikgebäude zerstört waren. Der größte Schaden aber entstand, als die Wehrmacht bei ihrem Rückzug im Frühjahr 1945 die Spreebrücken in Schöneweide sprengte: Durch die Explosionen gingen fast alle Fenster und Glasdächer in den Produktionshallen zu Bruch. Als kurz darauf die Rote Armee das Industriegebiet besetzte, lagen die Betriebe in Schutt und Asche.
In Schöneweide begann eine neue Ära. Die sowjetische Kommandantur ließ alle AEG-Betriebe enteignen und gliederte sie 1946 in die „Sowjetische Aktiengesellschaft“ (SAG) ein, um ihre Gewinne in sowjetisches Staatseigentum zu überführen. Unter schwierigsten Bedingungen rollte langsam die Produktion wieder an. Überall waren die Belegschaften stark dezimiert, dazu vom Hunger geschwächt und demoralisiert. Im strengen Winter 1945/46 konnten die Werkhallen kaum beheizt werden. Es dauerte lange, bis die Trümmer geräumt und die zerstörten Dächer der Fabrikhallen wiederhergestellt waren. Zunächst produzierte man überwiegend Gegenstände für den täglichen Gebrauch: Bratpfannen, Schuhsohlen, eiserne Öfen… Doch bald kamen auch erste Branchenaufträge, überwiegend aus der Sowjetunion, die wieder Arbeit und Geld einbrachten. Die Belegschaften wuchsen, das Leben ging weiter in der Elektropolis.
Mit dem Aufbau des neuen Staates DDR im Osten Deutschlands änderten sich abermals die Eigentumsverhältnisse: Die AEG-Werke wurden von den Russen 1949 an die DDR zurückgegeben und firmierten jetzt als „volkseigene Betriebe“ (VEB). Zwei große elektrotechnische Werke dominierten nun den traditionellen Standort entlang der Wilhelminenhofstraße, der VEB Kabelwerk Oberspree (KWO) und der VEB Transformatorenwerk Oberspree (TRO).
Anfang der 1950-er Jahre kam ein dritter Elektro-Riese hinzu: das Werk für Fernsehelektronik (WF). Schon früh wurde das Fernsehen in der DDR nicht nur als zukunftsträchtiges Medium erkannt, sondern auch als ideales Instrument für Klassenkampf und Propaganda. Der junge Staat forcierte mit Elan den Aufbau von Sendestationen und die Produktion von Fernsehgeräten. Die Röhren dafür wurden von Anfang an in Schöneweide produziert, auf dem Gelände der vormaligen kleinen Röhrenfabrik Oberspree, wo AEG und Telefunken schon in den 1930-er Jahren die ersten Schritte ins Fernsehzeitalter gingen. Jetzt wurde der Betrieb zügig ausgebaut und wechselte mehrfach seinen Namen, bevor er 1960 endgültig zum „Werk für Fernsehelektronik“ wurde. Das war die Zeit, in der die Nachfrage nach Fernsehgeräten und -zubehör rasant anwuchs und eine immer breitere Produktpalette erforderlich machte. Aber auch Kameras, Elektronenmikroskope, Optoelektronik und vieles mehr wurde im WF produziert, das schon bald die gesamte Fläche der einstigen NAG-Autofabrik einnahm und mit bis zu 9.000 Beschäftigten der stärkste von den drei elektrotechnischen Großbetrieben in Schöneweide wurde.

 

Im Korsett der sozialistischen Planwirtschaft

In den Anfangsjahren waren unter den Technologen und Ingenieuren nicht wenige frühere AEG-Mitarbeiter, die von der sowjetischen Administration in Leitungspositionen eingesetzt wurden. Genannt sei hier vor allem Walter Bruch, einer der großen Pioniere des Fernsehens, der schon für die Olympischen Spiele 1936 eine Spezialkamera entwickelt hatte. 1945 war er führend im damaligen „Labor, Konstruktionsbüro und Versuchswerk Oberspree“ tätig, dem kleinen Vorläufer des WF, wobei er jeden Tag aus Westberlin, wo er wohnte, nach Schöneweide kam. Doch im Oktober 1946 entging er nur knapp der berüchtigten „Operation Ossawakim“, bei der die Russen Hunderte von angesehenen deutschen Wissenschaftlern kurzerhand in die Sowjetunion entführten, um sich ihr Know-how zunutze zu machen. Seither hat Walter Bruch die sowjetische Besatzungszone nicht mehr betreten. Er ging zurück zu Telefunken nach Hannover, wo er später maßgeblich zur Entwicklung des PAL-Farbfernsehsystems beitrug.
Einen ganz anderen Weg nahm Georg Pohler, Ingenieur und Spezialist für angewandte Werkstofftechnik, den die Russen erst zum Technischen Direktor und später sogar zum ersten Werkdirektor des Kabelwerkes Oberspree ernannten. Auch er war langjähriger AEG-Angestellter, und auch er wurde Tag für Tag mit seinem Dienstwagen aus Westberlin nach Schöneweide gefahren. Erst 1963 zog er endgültig nach Ostberlin; doch selbst dann verweigerte er noch lange den Eintritt in die SED, den er erst 1973 vollzog. Als man 1967 die DDR-Kabelwerke in einem Kombinat zusammenfasste, wurde Pohler dessen Generaldirektor. Sein Wirken prägte über Jahrzehnte nicht nur die Entwicklung des KWO, das durch ihn zu einem sozialistischen Vorzeigebetrieb erwuchs, sondern darüber hinaus auch die Entwicklung der gesamten DDR-Kabelindustrie. Berühmt waren vor allem seine Teamfähigkeit und sein menschliches Verständnis. „Geh zu Pohler, wird dir wohler“, hieß es unter den Arbeitern. Erst in den 1980-er Jahren ging er widerwillig in den Ruhestand.
Eine tragische Persönlichkeit aus diesen Jahren war Arne Benary, dessen Wirken sich gleichfalls mit dem Kabelwerk Oberspree verband. Er war Wirtschaftstheoretiker und hatte zusammen mit seinem Lehrer Professor Friedrich Behrens 1957 die Schrift „Zur ökonomischen Theorie und Politik in der Übergangsperiode“ verfasst, in der er die zentralistische Leitung der DDR-Wirtschaft kritisierte und eine größere Selbstständigkeit der einzelnen Betriebe befürwortete. Dafür wurde Benary von der DDR-Führung als „Revisionist“ gerügt und mit einem Parteiverfahren bestraft. Man entzog ihm seine Stelle in der Akademie der Wissenschaften und verbannte ihn zur „Bewährung“ ins Kabelwerk Oberspree, wo er als Ökonomischer Direktor jahrelang versuchte, seine Thesen in die wirtschaftliche Praxis umzusetzen. Doch das konnte nicht gelingen – alle Reformbestrebungen waren in der DDR zum Scheitern verurteilt. Arne Benary nahm sich 1971 das Leben. Er wurde gerade 42 Jahre alt.
Um diese Zeit waren alle Elektropolis-Betriebe längst in das DDR-System der sozialistischen Planwirtschaft eingegliedert und an rigide Planvorgaben gebunden, die jede Kreativität und Eigeninitiative unterbanden. Auch innerhalb des RGW bekam jedes Werk bestimmte Aufgaben zugeteilt, so dass sich eine umfangreiche Produktpalette nicht bilden konnte. Trotzdem entstanden während der DDR-Zeit in allen drei Schöneweider Betrieben elektrotechnische Qualitätsprodukte, die den Vergleich mit dem Westen nicht zu scheuen brauchten. Sie wurden nicht nur an die Staaten des Ostblocks verkauft, sondern auch an Entwicklungsländer in Asien oder im Nahen Osten. Die Betriebe unterhielten zeitweise Exportbeziehungen zu mehr als 40 Ländern in aller Welt. So wurden vom KWO sämtliche Hochspannungskabel für die Nilquerung in Ägypten sowohl gefertigt als auch montiert. Und das Transformatorenwerk TRO rüstete das gesamte Energienetz von Griechenland mit Transformatoren aus. Solche Aufträge waren immer heiß begehrt, denn sie wurden mit den vom DDR-Staat so dringend benötigten harten Devisen bezahlt.
Jeder DDR-Betrieb war verpflichtet, neben seinen Spezialprodukten auch Konsumgüter für den täglichen Bedarf der Bevölkerung herzustellen. Gartenschläuche, Campinggrills oder Wanduhren gehörten mithin zur Produktpalette in den drei Werken. Besonders der Rasenmäher „Trolli“, den das TRO 1962 im Rahmen eines Jugendprojektes entwickelte, fand über Jahrzehnte reißenden Absatz – wobei sicherlich half, dass es im ganzen Land kein anderes Modell zu kaufen gab – und wurde auch zum Exportschlager in vielen Ländern des RGW, so dass TRO ungewollt zum größten Rasenmäherproduzenten des gesamten Ostblocks mutierte.
Die DDR verstand sich als Sozialstaat für die werktätige Bevölkerung und legte Wert darauf, in allen Betrieben die entsprechenden Leistungen vorzuhalten. Die Schöneweider Großbetriebe verfügten über eigene Polikliniken und Arztpraxen, über Betriebskrippen und -kindergärten, über Ferienobjekte und Kinderferienlager, selbst über Rudersporthäuser für den Wassersport, der in diesem wasserreichen Bezirk von jeher eine große Rolle spielte. All dies stand den Betriebsangehörigen entweder gratis oder zu einem symbolischen Spottpreis zur Verfügung. Besonders stolz war man auf das Kulturangebot: In eigens angelegten „Kulturhäusern“ konnte man kegeln, töpfern, schreiben, malen, batiken und vieles mehr. Das KWO besaß sogar ein eigenes Arbeitertheater.
Doch in den 1980-er Jahren wurde auch in Schöneweide der Niedergang des sozialistischen Systems offensichtlich. Für dringend benötigte Modernisierungen und Neubauten war kein Geld vorhanden. Auch in technischer Hinsicht konnte die DDR mit der Entwicklung im Westen nicht Schritt halten. Das zeigte sich besonders signifikant im Werk für Fernsehelektronik. Die Fernsehtechnik, die man dort produzierte, war im Weltmaßstab längst nicht mehr konkurrenzfähig. Da man die teuren Patente auf die westlichen Innovationen nicht kaufen konnte, versuchte man, vergleichbare Ersatzprodukte in Eigenregie zu entwickeln, allerdings nur mit geringem Erfolg.
Schöneweide bot zu dieser Zeit ein tristes Bild: Der Arbeiterbezirk lag zu weitab von den Berliner Sehenswürdigkeiten, als dass die DDR-Führung je Anlass hätte finden können, dort Renovierungen durchzuführen oder Vorzeigeprojekte zu etablieren. Über die Jahrzehnte hin verfielen die Häuser, in denen nicht mal mehr die notwendigsten Instandsetzungsarbeiten vorgenommen wurden. Die Läden boten immer weniger Waren, und das Unterhaltungsangebot beschränkte sich auf ein paar düstere Eckkneipen, in denen sich die Arbeiter nach Feierabend Bier und Schnaps genehmigen konnten. Das Wort von der „Oberschweineöde“ ging um.

 

Zwischen Tristesse und Zukunftshoffnung – Schöneweide nach der Wende

Das Ende ist bekannt: Im Herbst 1989 wurde die DDR-Führung vom rebellierenden Volk hinweggefegt. Wende und Wiedervereinigung nahmen unaufhaltsam ihren Lauf. Jetzt zeigte sich in vollem Umfang, wie heruntergekommen und zurückgeblieben die DDR-Wirtschaft als Ganzes war; und in Schöneweide, wo sich mit gleich drei großen Elektrobetrieben eine besonders wichtige Branche der DDR-Wirtschaft konzentrierte, zeigte es sich besonders signifikant. Massenentlassungen waren die Folge, Abteilung um Abteilung wurde geschlossen. Einzelnen Freundes- oder Arbeitsgruppen gelang es, sich durch Zusammenschlüsse in die Selbstständigkeit zu retten, mit speziellen Leistungsangeboten oder mit besonderen Nischenprodukten. Doch nicht einer der stolzen Großbetriebe, die in der DDR zu den Stützen der Elektroindustrie zählten, konnte sich in der Marktwirtschaft behaupten.
In jedem der drei Großbetriebe gab es Versuche westlicher Unternehmen, sich am Standort Schöneweide zu etablieren und innerhalb der Branche neu zu positionieren. Das KWO wurde 1992 von dem britischen Konzern BICC Cables Ltd. erworben, und die Aufregung war groß, als im Oktober 1992 die britische Königin Elisabeth II. höchstpersönlich das KWO betrat, um den neuen Zuwachs ihres Imperiums in Augenschein zu nehmen. Doch längerfristig konnte auch das nichts helfen. 1997 gab BICC den Standort wieder auf. Auch die Wilms-Gruppe, deutscher Marktführer in der Kabelindustrie, die das Gelände anschließend in Besitz nahm, vermochte die Kabelproduktion auf Dauer hier nicht wirtschaftlich zu betreiben und stellte sie 2010 endgültig ein.
Im WF hatten sich nach der Wende alle Hoffnungen auf den südkoreanischen Elektroriesen Samsung gerichtet, der das Werk 1993 kaufte und dort Fernsehbildröhren produzieren ließ. Doch in dem Maße, wie der Flachbildfernseher den Röhrenbildschirm vom Markt verdrängte, wurde auch hier das Geschäft unrentabel. 2005 zog sich Samsung endgültig aus Schöneweide zurück.
Besonders tragisch verlief die Nachwendeentwicklung im Transformatorenwerk Oberspree. Hier trat die AEG großartig als Retter der Belegschaft auf. 1991 kaufte sie das Werk zurück und ließ dort Transformatoren herstellen in der Hoffnung, an ihre eigene, von Emil Rathenau begründete Tradition wieder anzuknüpfen. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet die Transformatorenproduktion der AEG in eine Absatzkrise, und man entschied 1996, den Standort Schöneweide zu verlassen. Emil Rathenaus einst so gewaltiges Imperium hatte nun auch seine letzte Bastion verloren. Fast erscheint es folgerichtig, dass nur wenige Jahre später der gesamte AEG-Konzern am Ende war und Insolvenz anmelden musste. Heute stehen die traditionsreichen Fabrikhallen und Produktionsgebäude der Elektropolis größtenteils leer.
Doch aus den Trümmern der DDR ist längst schon wieder neues Leben getrieben. Während die Großprojekte scheiterten, nutzten etliche mutige Einzelkämpfer ihre Chancen für einen Neuanfang. Von den Jungunternehmern, die hier ihre Startups gründeten und ihre Geschäftsideen verwirklichten, sind natürlich einige gescheitert, doch andere halten sich bis heute über Wasser, und wieder andere können sogar erstaunliche Erfolge verbuchen. In den historischen Produktionshallen des einstigen Transformatorenwerkes können zu günstigen Bedingungen Ateliers gemietet werden. Viele Künstler haben hier schon ihre Inspiration gefunden. Mit jedem Jahr wächst das Angebot an Kultur und Unterhaltung. Und 2006 ist auch die Wissenschaft in Schöneweide eingezogen: Die Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin hat seither ihren Sitz in einem Teil des früheren WF, und die frühere TRO-Poliklinik wurde zu einem Studentenwohnheim ausgebaut. Es sind vor allem die jungen Leute von der Hochschule, die mit ihrer Präsenz und ihren Ideen dafür sorgen, dass der alte Arbeiterbezirk wieder mit frischem Leben erfüllt wird.
Auch im äußerlichen Bild hat sich einiges getan in der einst so abgewrackten „Oberschweineöde“. Viele alte Häuser wurden endlich saniert, und am Spreeufer entstand ein schöner Spazierweg. Schöneweide ist längst nicht mehr das unattraktive Industrie-Areal, das weder Schönheit noch Kultur zu bieten hat. Zunehmend siedeln sich auch junge Leute hier an, genießen die Freizeitangebote und entdecken die spröde Schönheit des Gebietes zwischen Spreeidyll und Gründerjahre-Flair. Im Gespräch sind verschiedene große Bauprojekte, die den Standort für die Zukunft noch attraktiver machen sollen. Wer weiß, vielleicht wird ja die „Oberschweineöde“ noch mal zu einem angesagten Wohnbezirk.

 

Zur Historie von Schöneweide auf Wikipedia

Auf Wikipedia findet man ausführliche Beiträge zur historischen Entwicklung von Schöneweide, Niederschöneweide und Oberschöneweide.